Von Ajaya Kumar Singh, Bhubaneswar, Indien
aus dem Englischen übersetzt von Katrin Krips-Schmidt
Indiens Premierminister Narenda Modi ist seit drei Monaten im Amt. Seitdem haben sich die Dinge dort verändert. Aber nicht zum Positiven, wie Ajaya Kumar Singh berichtet. Der katholische Priester und Menschenrechtsaktivist aus Bhubaneswar schreibt u.a. über die “Ghettoisierung” von Minderheiten, eine blühende Vetternwirtschaft, einen bröckelnden Säkularismus und die Beschneidung von Rechten wie Rede- und Versammlungsfreiheit:

Ajaya Kumar Singh aus
Bhubaneswar, Hauptstadt des indischen Bundesstaates Odisha. (Foto: privat)
Drei Monate sind vergangen, seitdem Narendra Modi in Indien die Führung übernommen hat. Noch nie zuvor ist in Indien die Diskussion über den Säkularismus so heftig geführt worden wie heute. Die Minderheiten sind nervös. Bharat Bhushan, leitender Journalist bei der Tageszeitung „Business Standard“, fängt die Stimmung in der Nation und die derzeitige Lage der Minderheiten in Indien ein: „Irgendetwas hat sich in unserer Gesellschaft gewandelt, nachdem Narendra Modi Premierminister geworden ist. Heute ist es hoffähig geworden, sich über andere religiöse Gemeinschaften unbekümmert zu äußern. Eine neue „Normalität“ wird soeben in Bezug darauf definiert, wie Indien über sich und die Welt spricht. Sogar die Regierungsmitglieder reden ganz offen von einem Programm der „Hindufication“. Jemand aus der Regierung aus Goa meinte, dass unter Modi Indien zu einer „Hindu-Nation“ werde und ein anderer entgegnete darauf, dass es das bereits sei. Die Minderheiten könnten sich dazu entscheiden, zu selbstbezogenen, noch mehr ghettoisierten Gruppen zu werden und sich aus der aktiven Politik zurückziehen. Ein großer Teil von ihnen könnte sich damit zufriedengeben, wenn sie unversehrt davon kämen und ihr Privatleben leben dürften. Während einige Jugendliche möglicherweise durch Militanz angezogen werden, könnten andere durch das Geld der Amtsstuben gewonnen werden. Doch der größere Teil der Minderheiten könnte dem öffentlichen Leben gegenüber einfach nur gleichgültig werden.“
In der Präambel der Verfassung heißt es: „Wir, das Volk von Indien, haben feierlich beschlossen, Indien als souveräne, sozialistische, weltliche, demokratische Republik zu konstituieren.“ Der Kern Indiens ist also in der Präambel in fünf Schlagworten erfasst. Vier dieser fünf Schlagworte lassen sich nicht so leicht fassen: „sozialistische, weltliche, demokratische Republik“.
Sozialistisch: die kapitalistische Vetternwirtschaft blüht
Indien hat sich dazu entschieden, ein sozialistisches Land zu sein. Die riesige Kluft zwischen Arm und Reich zeigt, dass es sich nicht auf diesen Prinzipien stabilisiert, sondern einem kapitalistischen Wirtschaftssystem ergeben hat. „Bangladesch nimmt beim Index der menschlichen Entwicklung (Human Development Index) einen höheren Rang ein als Indien“, heißt es in „An Uncertain Glory: India and its Contradictions“, verfasst von Jean Dreze, Gastprofessor im Fachbereich der Wirtschaftswissenschaften an der Allahabad-Universität. Der Nobelpreisträger Amartya Sen ist Professor für Wirtschaft und Philosophie an der Harvard University: „Nach der Forbes-Liste (2011) kontrollierten die 55 US-Dollar-Milliardäre in Indien mehr als 17 % seines Bruttoinlandsprodukts; Chinas 115 Milliardäre kontrollierten im Vergleich dazu bloß 4 %“, zitierte ihn die Tageszeitung „The Hindu“. Doch es ist nicht nur die kapitalistische Vetternwirtschaft, die blüht, sondern auch die blanke Korruption, sagt der bedeutende Anwalt am Obersten Gerichtshof, Prashant Bhushan. Die Unternehmen sorgten mit ihrem Kapital, den Medien und personellem Einsatz für Modis Wahlsieg zu ihren Gunsten. Der Sieg Modis besiegelt die Kapitulation der Sozialisten an die Kapitalisten. Selbst heute noch sind manche Regionen in Indien in Bezug auf die Entwicklungsindikatoren schlechter dran als die Länder der Subsahara. Was die ethnischen und Minderheitengemeinschaften beunruhigt, ist die Verknüpfung zwischen den Unternehmen und einem radikalen Hinduismus.
Säkularismus: Indien zuerst
Der Säkularismus bildet das Grundgerüst der indischen Verfassung. Ein Staat, der keine Religion als Staatsreligion anerkennt, behandelt alle Religionen gleichberechtigt. „Säkular“ meint das durch Verfassung und Recht festgelegte Verhältnis zwischen der Regierung und dem Volk. Mohan Bhagwat, der Leiter von Sangh Parivar (einer hinduistisch-nationalistischen Organisation), in dessen Auftrag Narendra Modi zum wichtigsten Wahlkämpfer der Bharatiya Janata Party (BJP, Indische Volkspartei) wurde und der ihn später zum Kandidaten der BJP für das Amt des Premierministers machte, erklärte in dieser Woche: „Indien ist eine hinduistische Nation und Hindutva (die Ausrichtung Indiens nach hinduistischen Regeln) ist ihre Identität“. Weder die Bharatiya Janata Party noch der Premierminister konnten solchen Argumenten widersprechen. Für Modi bedeutet Säkularismus: Indien steht an erster Stelle.
Herr Modi sagte, dass er für den Säkularismus eine ganz einfache Definition hat: „̗‘Indien zuerst‘. Was auch immer man tut, wo auch immer man arbeitet: Indien sollte für alle seine Bürger an allererster Stelle stehen.“ Die Kritiker geben zu bedenken, dass die Gemeinschaften der indigenen Bevölkerung und der Minderheiten in seiner Rede über den Säkularismus keine Rolle spielen. Weshalb ist er nicht darauf eingegangen, dass der Säkularismus einer der fünf Eckpfeiler Indiens ist? Wessen Indien repräsentiert Modi?
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